Montag, 11. November 2013

Die Birkelfein-Artefakte

Die Erfahrungen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft haben uns gelehrt, dass man einfach so holterdiepolter in der Zeit herumreisen kann. Hier hat die Praxis die Theorie eingeholt. Während man zu Präzeitreisezeiten noch der Meinung war, man müsse – falls Zeitreisen irgendwann möglich seien – mit äußerster Vorsicht durch die Zeit reisen, bloß nix anfassen, bloß nix kaputt machen oder keinen umbringen und schon gar nicht einen seiner Vorfahren... Sie kennen die Paradoxien, die um das Zeitreisephänomen gesponnen wurden. Das Großvater-Paradoxon oder Varianten des Schmetterlingseffekts, indem ein Zeitreisender in prähistorischer Vergangenheit aus Versehen – oder mit Absicht – ein Insekt zertritt und damit in der Folge die gesamte Menschheit auslöscht, was wiederum dazu führt, dass niemand in die Vergangenheit reisen konnte, kann, können wird, um das Insekt zu zertreten, also stirbt die Menschheit doch nicht aus und so weiter und so fort. Das kann natürlich nicht sein. Darauf kamen die Denker der Vorzeitreisezeit von ganz alleine und es entstanden wilde Theorien über Paralleluniversen, in denen sich jede nur denkbare Möglichkeit zu jedem Zeitpunkt in ein neues Universum verzweigt. Stehe ich also an einer Weggabelung, dann entsteht in dem Augenblick, da ich den rechten Weg wähle ein Universum in dem ich den rechten Weg gewählt habe. Gleichzeitig entstehen aber auch alle anderen Universen, in denen es anders kam. Ein Universum, in dem ich nach links ging, eins in dem ich einen Anruf bekam und umkehrte, eins in dem ich, bevor ich mich entscheiden konnte, vom LKW überfahren, vom Blitz getroffen, von einem Meteor erschlagen, einem Herzanfall zum Opfer gefallen bin oder von Außerirdischen entführt wurde. Letzteres natürlich nur in einem Universum, in dem es Außerirdische gibt, was ja zwangsläufig nicht in jedem Universum der Fall sein muss. Denn seit Anbeginn der Zeit – und das ist wörtlich zu nehmen – entstehen innerhalb jedes Gegenwartsquantums (also der Dauer eines Jetzts bzw. der kleinsten Zeitspanne überhaupt), also dem, was wir etwas ungenau „Augenblick“ nennen, alle möglichenr Universen, nämlich genau so viele wie möglich sind. Jede Möglichkeit ist zu jedem Zeitpunkt Ausgangspunkt eines neuen Universums. Die einzelnen Universen können sich dabei sehr ähnlich sein, je „dichter“ sie beieinander liegen, oder auch komplett verschieden, je nach Dauer des Zeitraums, der zwischen ihren Entstehungen liegt. Das ist aber eigentlich egal, so die Theorie, da das Ich, das den rechten Weg genommen hat, niemals ein anderes Universum besuchen oder auch nur wahrnehmen könnte, indem sich das Ich anders entschieden hat. Genaugenommen bin das auch gar nicht mehr ich, wenn ich nach links gegangen bin oder einem plötzlichen Impuls folgend mich einfach erst mal hingelegt habe... gleich hier an der Weggabelung.
Innerhalb dieser Multiversen-Theorie nimmt die Zeitreise daher auf den ersten Blick nur eine weitere Möglichkeit ein. Reist jemand durch die Zeit, dann entsteht dadurch einfach ein weiteres Universum1. Doch das stimmt nur bedingt, denn denkt man die Theorie einmal konsequent durch, haben wir im Falle einer Reise in die Vergangenheit den besonderen Fall, dass jemand das Universum A verlässt, um durch sein Erscheinen in der Vergangenheit ein Universum Z zu erzeugen, in dem er fortan leben wird. Dabei muss es so sein, dass für unseren Zeitreisenden Universum A in dem Augenblick endet da er dessen Zeit verlässt und Universum Z sich in dem Augenblick manifestiert, da unser Zeitreisender dort ankommt. Über eine gewisse Zeitspanne liefen die beiden Universen A und Z dann parallel „nebeneinander“ her, wobei unser Zeitreisender bis zu dem Zeitpunkt der Zeitrechnung in Universum Z, da er Universum A verlassen haben wird, glaubt, Wissen über die Zukunft in Universum Z zu haben, da er diese als Vergangenheit von Universum A wähnt, die er ja zu kennen glaubt. Allerdings hat in der Vergangenheit seines Ausgangsunversums A keine Zeitreise stattgefunden, weshalb der Zeitenlauf ab der Entstehung von Universum Z nicht deckungsgleich mit dem von Universum A sein wird. Die Abläufe driften mit wachsender Zeitachse immer weiter auseinander. So dass es denkbar ist, dass der Zeitreisende – reist er nur weit genug in die Vergangenheit – in Universum Z nie geboren wird. Was aber egal ist, da unser Zeitreisender ja spontan mit dem Universum Z entstanden ist, so wie alles andere in diesem Universum auch, und es insofern ohne Bedeutung ist, ob er irgendwann einmal in Universum Z geboren wird oder nicht. Selbst dann nicht, wenn er dort auch eine Zeitreise antreten würde, was zwangsläufig zu einem weiteren neuen Universum Z2 führen würde usw.
Auf Basis dieser Theorie ist eine Zeitreise insofern zweckfrei, da sie die Zeitabläufe im Universum A nicht ändert, sondern einfach ein neues Universum Z entstehen lässt, in dem man dann versuchen kann, die Abläufe gemäß des Wissens aus Universum A zu manipulieren, was klappen kann oder nicht. Dem Universum A ist es egal. Das Universum A läuft einfach weiter, ab einem gewissen Zeitpunkt ohne unseren Zeitreisenden, was möglicherweise ein Problem des Energieerhaltungssatzes ist, aber davon abgesehen ändert die Zeitreise in Universum A nichts, außer, dass ein Mensch spurlos aus ihm verschwindet. Aber das kommt ja ständig vor. Menschen verschwinden eben.
Tatsächlich verhält es sich mit dem Universum oder den Universen etwas anders, wie wir heute wissen und somit eigentlich schon immer wussten oder zumindest irgendwann mal wissen werden. Wir reden deshalb lieber vom „Alles“, das per Definition alles beinhaltet, auch alle Universen, und zwar immer. Das macht alles etwas einfacher.
Im Falle einer Zeitreise verhält es sich allerdings so, dass der Zeitreisende sein Universum nie verlässt. Er kann das per Definition auch gar nicht, da Parallel-Universen abgesehen von einem möglichen gemeinsamen Ausgangspunkt keinerlei Verbindung mehr miteinander haben. Die „Distanz“ zwischen Parallel-Universen bleibt unüberwindbar, wie es einst die Lichtgeschwindigkeit war, aber das ist ein andere Geschichte. Tatsächlich befindet sich der Zeitreisende zu jedem Zeitpunkt in einem Universum AZ, in dem die Zeitreise bereits inbegriffen ist. Aus Sicht des Zeitreisenden findet eine gewisse Kontinuität statt. Er lebt in Universum A so vor sich hin, macht dann eine Zeitreise und landet in der Vergangenheit. Dabei ist sein Erleben allerdings einer gewissen Kontinuität unterworfen, denn für unseren Zeitreisenden läuft die Zeit – trotz Zeitsprung – subjektiv kontinuierlich weiter. Der Zeitpunkt zu dem er in der Vergangenheit als Zeitreisender ankommt liegt für ihn ganz klar unterscheidbar vor dem selben Zeitpunkt bevor er die Zeitreise gemacht hat: Reisen wir also aus dem Jahr 2020 zum 5. November 2010 11.45 Uhr zurück, so liegt dieses Datum für den Zeitreisenden eindeutig vor dem „ersten Mal“, da er den 5. November 2010 11.45 Uhr im „normalen“ Zeitfluss erlebt hat. Subjektiv betrachtet befindet sich unser Zeitreisender in einem Universum AZ, in dem eben seine Zeit bedingt durch den Zeitsprung nicht synchron zur Universalzeit läuft... oder es ist einfach ein weiteres Universum AZ entstanden, in dem die Zeitreise inklusive ist. Wir hätten also ein Universum AZ, das sowohl Universum A als auch Universum Z beinhaltet, was entweder bedeutet, dass Universum A und Univesum B gar keine eigenständigen Universen sind oder eben das „übergeordnete“ Universum AZ keines ist.
Bei Reisen in die Zukunft läuft das alles übrigens viel weniger kompliziert, zumindest bis zu dem Zeitpunkt, da man wieder in die Gegenwart zurückkehrt. An dieser Stelle merkt man übrigens schnell, dass Begriffe wie Gegenwart, Zukunft oder Vergangenheit nur bedingt sinnvoll sind. Denn ein Zeitreisender reist von seiner Warte aus niemals in die Zukunft oder die Vergangenheit. Er bleibt stets in der Gegenwart, wobei lediglich der Zeitpunkt seiner Gegenwart auf der Zeitachse untypisch verläuft. Das führt dazu, dass ein bestimmter Zeitpunkt aus seiner Warte gleichzeitig in der Vergangenheit UND der Zukunft liegt. Reist unser Zeitspringer also am Mittwoch zum vorangegangenen Montag, dann ist der Dienstag für ihn gleichzeitig gestern und morgen. Vorausgesetzt es ist dann noch derselbe Dienstag wie vorher. Was er ist. Vertrauen Sie mir!
Um das zu verdeutlichen, wird immer wieder gerne die alte Geschichte von Goos Birkelfein erzählt. Wie Sie wissen ist Birkelfein einer der berühmtesten Zeitreisenden, wenn nicht der berühmteste (und möglicherweise der bisher einzige und um ihn ranken sich allerhand Anekdoten. Seine Berühmtheit rührt wohl auch von den Geheimnissen, die sich um diesen Außergewöhnlichen Zeitgenossen ranken, die Legenden und Spekulationen über seine Herkunft, sowohl räumlich als auch zeitlich. Sicherlich ist nicht alles wahr, was über Goos Birkelfein erzählt wird, vor allem sollten die Berichte über seine Sichtungen in allen nur denkbaren Zeiten mit größter Vorsicht und der notwendigen wissenschaftlichen Distanz bewertet werden, aber darauf kommt es bei solchen Geschichten eigentlich auch nicht wirklich an. Sollten Sie übrigens noch nie etwas von Goos Birkelfein gehört haben, sollten Sie sich vielleicht fragen, ob Sie im richtigen Universum sind... ein kleiner Scherz am Rande.
Das erste verifizierte Erscheinen von Goos Birkelfein ist hinlänglich bekannt. Das Zeit-Zeugnis kennt jedes Kind und es ist heute im Tempus-Museum in Münschen zu bestaunen: Der Birkelfein-Löffel. Er ist aus mehreren Gründen von ganz besonderer Bedeutung und zählt wohl zu den berühmtesten seiner Art. Zum einen ist er mit einem Alter von etwa 65 Millionen Jahren das älteste Birkelfein-Artefakt, zum anderen ist er, trotz seines Alters, der optisch am besten erhaltene der bisher gefundenen sieben Haupt-Birkelfein-Artefakte. Und schließlich ist er das letzte bis dato gefundene Artefakt. Alle später gefundenen Artefakte wurden entweder als Fälschungen entlarvt oder konnten nicht mit ausreichender Sicherheit verifiziert werden. Unter andrem fehlte Ihnen die typisch Birkelfein'sche Strahlungssignatur. Die übrigens auch beim ältesten Artefakt, dem Birkelfein-Löffel, fehlt, was in diesem speziellen Fall allerdings seinem Alter gezollt ist. Kritiker behaupten allerdings, dass seit 1972 deshalb kein neueres Birkelfein-Artefakt mehr anerkannt wurde, weil jedes weitere Artefakt die komplette Benennung aller bisher katalogisierten Artefakte notwendig machen würde. Das hat seinen Ursprung in der etwas unkonventionellen Typologisierung der Birkelfein-Artefakte. Andererseits handelt es sich nur um sieben Haupt-Artefakte, was den Aufwand für eine Neunummerierung überschaubar macht.
Wie Sie gewiss noch aus der Schule wissen, sind die Birkelfein-Artefakte nach ihrem Alter und ihrer Fundchronologie katalogisiert. Das „Birkelfein-Artefakt A7“ BA A7, das BA steht für Birkelfein-Artefakt, ist also das älteste Artefakt (A), das allerdings erst als bisher letztes oder siebtes (7) gefunden wurde. (BA A7) gehört zweifellos zu den beeindruckendsten Artefakten und die Geschichte seines Fundes ist allseits bekannt2. Mindestens ebenso interessant ist aber die Geschichte von BA G1“. BA G1 ist das jüngste der sieben Haupt-Artefakte, wurde allerdings als erstes gefunden3. BA G1 ist seinem Besitzer höchstens fünf Jahre bevor es gefunden wurde aus der Tasche gefallen... oder nur fünf Minuten zuvor. Leider können wir das noch nicht genau feststellen!












1



Das Wort Universum (von lateinisch universus „gesamt“, von unus und versus „in eins gekehrt“) bezeichnet in der Physik die zu einem gegebenen Zeitpunkt vorgefundene Anordnung aller nach physikalischen Gesetzmäßigkeiten organisierten Materie und Energie, angefangen bei den elementaren Teilchen bis hin zu den großräumigen Strukturen wie Galaxien und Galaxienhaufen. [Wikipedia]

2Apollo 17, 13. Dezember 1972
3Der Vollständigkeit halber sollte noch kurz auf die vollständige Typisierung der Birkelstein-Artefakte eingegangen werden. Gerade in jüngster Zeit sieht man in der Fachliteratur öfter neben der beiden gewohnten Dimensionen (Alter und Entdeckungs-Chronologie) noch eine dritte, mit einem grieschichen Buchstaben besetzte Dimension. Diese neue Klassifizierung soll die wahrscheinliche Reihenfolge aufzeigen, in der die Artefakte von Goos Birkelfein selbst platziert. Dabei fließt der inzwischen unstrittige Ansatz mit ein, dass es sich bei Birkelfein um einen Zeitreisenden handelt. Daraus resultiert, dass sein Besuch vor 65 Millionen Jahren nicht zwangsläufig entlang seiner subjektiven Zeitwahrnehmung seine erste Zeitreise war, nur weil sie am weitesten zurück liegt. Es verdichteten sich vielmehr in jüngster Vergangenheit die eigentlich triviale Erkenntnis, dass Birkelfein die verschiedenen Orte und Zeiten in seiner ganz eigenen Reihenfolge aufgesucht hat. Demnach ist beispielsweise der so genannte „Eierbecher“, also BA C6ε das drittälteste, als sechstes gefundene Artefakt, das Birkelfein selbst auf seiner bis dato 5. Reise zurückließ.