Freitag, 23. Dezember 2011

Der himmlische Weihnachtsaussteiger

Eine Weihnachtsgeschichte aus  dem vergangenen Jahrhundert (1998) von Jörg Laux.
Die Original-Zeichnung aus dem Jahr 1998 stammt aus der Feder des ehrenwerten Jörg Siersdorfer, Erfinder der Groben Bratwurst und der E-Gitarre am Stiel.

Der alten Zeiten wege!


Das waren noch Zeiten, als Kinderwünsche noch in Socken passten...  Zeichnung: Jörg Siersdorfer


Nikolaus Weihnacht sitzt an seinem Schreibtisch. Draußen ziehen graue Nebelschwaden unter den schwarzen, schneeschweren Nachmittagswolken dahin. Da ist sie wieder, die besinnliche Zeit. Schon tummeln sich die ersten Bittbriefe in seiner Mailbox. „Advent, Advent!" , murmelt Nikolaus Weihnacht in seinen weißen Bart. Den muss er tragen, so will es das Gesetz, obwohl ihn die Haare auf der Tastatur seines Computers regelmäßig zur Weißglut bringen. Dann zieht er ihn aus und legt ihn auf den Schreibtisch.

Neulich hatte er zum nachmittäglichen Gloriasingen beinahe vergessen die Bartperücke anzulegen. Niemand weiß, dass er keinen echten Bart mehr hat. Im Sack war eines Tages ein Rasierapparat übrig geblieben, und da passierte es eben. Wenigstens muss er im Büro nicht die warme, rote Mütze tragen und den dicken Mantel. Draußen fallen fast unmerklich die ersten Schneeflocken vom Himmel und tauen sofort auf der Fensterbank. Nikolaus lehnt sich zurück, zündet sich seine Pfeife an, legt die Füße auf den Schreibtisch und betrachtet die tanzenden Flocken. Im Geiste gleitet er in eine andere, bessere Zeit. In eine Zeit, die nach Lebkuchen roch und Tannennadeln.
 
Damals passten die Wünsche der Kinder noch in Socken. Sein Goldenes Buch war keine Datei auf einer Festplatte. Damals gab es auch die Rute noch. Aber seit Ruprecht Eisenbeiß, sein Knecht, vor fünf Jahren gefeuert wurde, weil eine Elterninitiative seine Absetzung gerichtlich durchgesetzt hatte - „Die Methoden des Ruprecht Eisenbeiß, genannt Knecht Ruprecht, passen nicht mehr in die modernen Kindererziehungsschemata" , stand in der Urteilsbegründung - war es nicht mehr dasselbe. Ruprecht lässt noch dann und wann von sich hören, dann treffen sie sich und trinken sich im Gedenken an die Gute Alte Zeit die Nasen rot. Er arbeitet jetzt als Rausschmeißer irgendwo in einer Diskothek in der Zwischenwelt.
 
Seit Ruprecht weg ist, ist es einsam geworden, in der Stube 6.12. der himmlischen Verwaltung. Zu Besuch kommt nur noch manchmal vom Osterhasen. Seit sie seine Ostereierfabrik nach Taiwan verlegt haben, hat auch er viel Zeit. Nikolaus Weihnacht starrt jetzt oft wehleidig hinaus auf den Parkplatz vor dem himmlischen Verwaltungsgebäude, wo sein neuer, roter LKW steht. Tierschützer hatten seine Rentiere im vergangenen Jahr in einer Nacht- und Nebel-Aktion befreit, nachdem eines von einem Düsenjäger gestreift und übel verletzt worden war. Da hatte die Verwaltung die Gelegenheit genutzt, „einige Neuerungen" , wie sie es nennt, einzuführen. Seinen alten Rentierschlitten haben sie für 4,6 Millionen Mark an das Deutsche Museum verkauft. Dort steht er direkt zwischen dem Sandsack vom Sandmann und der leeren Wegwerfbüchse der Pandora. Das Jingle-Bells-Sound-Signal seines PCs reißt Nikolaus aus seinen Tagträumen. Eine Anzeige auf dem Schirm verkündet, dass nun der 100000. Wunsch nach einer der neuen Monsterman-Action-Figuren eingegangen ist und sich damit die Rabattkonditionen beim Zentralvertrieb um vier Prozent verbessert haben.

Nikolaus Weihnacht klopft seine Pfeife aus, nimmt sich ein Formular aus dem Regal an der Wand und wirft sich den Mantel über. Den Bart und die Mütze lässt er zurück, als er das Zimmer verlässt. Seine Stiefel quietschen auf dem Kunststoffnoppen-Industrieboden im Flur und erzeugen ein kaltes Echo. Er trottet an den grauen Bürotüren vorbei, die so fest verschlossen sind, wie die eines Adventskalenders im Juni. Das hier war früher die Namenstag-Etage. Er erreicht die leere Treppe und folgt ihr hinunter bis ins Foyer. Dort setzt er sich an einen Tisch und füllt das Formular aus, das er mitgenommen hat. Vor der Schiebetür des Foyers sitzt ein pummeliger Trompetenengel nur mit einem Boxershort bekleidet und spielt einen Bebop. Vor ihm liegt der kleine goldene Helm. Irgendwer hat ein paar Münzen hinein geworfen. Beim Rausgehen steckt Nikolaus das Formular in den Briefkasten neben der Pförtnerkabine und wirft seine Essensmarken für die Kantine in den Helm des kleinen Engels, der sich mit einer Triole auf seiner Trompete bedankt. Die Digitalanzeige über dem Parkplatztor zeigt den Dreizehnten Dezember. Nikolaus überquert den großen, halb verschneiten Parkplatz, vorbei am olivgrünen Jeep des Osterhasen und dem neuen Motorrad von Sankt Martin. Schneematsch schmatzt unter seinen Füßen. Vor der Himmelspforte warten die blauen Wolkentaxis, er pfeift sich eins herbei. Die Hecktür öffnet sich, er lässt sich auf die Rückbank fallen. „Nach Süden - Warp neun" , grummelt er den Taxifahrer an, der seinen bartlosen Fahrgast nicht erkennt. Er tippt statt dessen an seine Mütze und gibt Gas. Durch das Rückfenster sieht Nikolaus das Verwaltungsgebäude kleiner und kleiner werden. Schließlich saust das Taxi durch die mächtige Himmelspforte, wo ihm ein paar Lehrengel in silbernen Gewändern und mit orangen Stützballons an den Flügeln fröhlich zuwinken. Er wird seinen Namen ändern und im sonnigen Süden untertauchen. Das hier ist schon viel zu lange nicht mehr sein Ding. Vielleicht macht er eine kleine Bar auf und erfindet neue Cocktails, wer weiß? Vor ihm tun sich ungeahnte Möglichkeiten auf und Nikolaus Weihnacht beginnt zu lächeln. Niemand, außer vielleicht der Osterhase, wird ihn vermissen.

Ho Ho Ho!

Ende?






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